Mein Freund Piet und die Sache mit den binären Menschen

650291_original_R_K_B_by_Markus Vogelbacher_pixelio.de

Manchmal wundere ich mich schon ein wenig darüber, auf welche Gedanken mein Freund Piet so kommt, wenn wir an seinem Küchentisch sitzen, einen guten trockenen Roten trinken und gemeinsam die Welt ordnen. Unser Hund Schoppie, der uns mit gelegentlichen Schnarchtönen begleitet, wenn er unter der Eckbank liegt und von einem riesengroßen, vollen Fressnapf träumt, würde sich sicher ebenso wundern, wenn es ihn denn interessieren würde.

Kürzlich saßen Piet und ich auf der Eckbank in seiner gemütlichen Küche, um einen neu entdeckten guten Roten zu verkosten, als Piet wieder mal seine Hand hob, wie er es immer tut um etwas Wichtiges zu verkünden.

„Also irgendwie ist uns dieser ganze Computerkram zum Verhängnis geworden!“ rief er ziemlich laut und schlug dabei mit der flachen Hand auf den Tisch. Mit einem Jaulen schreckte Schoppie auf, schoss unter der Eckbank hervor und flüchtete hinter Adelgunde, Piets großartiges Eheweib, um von dort vorsichtig hinter der wehenden Schürze hervorzuschauen. Piet grinste, während Adelgunde ihn missbilligend anschaute.
„Ja, ja, Schoppie,“ meinte er, „es ist wirklich zum Davonlaufen! Seit Jahrzehnten arbeiten Wissenschaftler und Techniker daran, unsere Computer immer leistungsfähiger zu machen und ihnen sogar Fähigkeiten zu verleihen, wie sie eigentlich nur Menschen, mit ihren Emotionen und Intuitionen haben. Aber auch wenn wir heute eine Menge wissen, über die geniale Konstruktion und Funktion des menschlichen Gehirns mit seinen unzähligen neuronalen Verknüpfungen, können unsere Computer doch immer nur eine schwache Kopie dessen erzeugen, was den Menschen ausmacht. Diese binäre Aufteilung in Plus oder Minus, Ja oder Nein, Schwarz oder Weiß, macht eben unzählig viele Rechenschritte notwendig für etwas, das Menschen in einem winzigen Augenblick intuitiv erfassen und verstehen können.“

„Da hast du Recht,“ unterbrach ich Piet, „aber was ist denn daran nun das Verhängnis?“

„Geduld, junger Freund!“ lachte Piet, was mich immer ein klein wenig ärgert. Rentner sind wir beide, weißhaarig auch. Dass Piet 15 Jahre älter ist als ich, spielt nun wirklich keine große Rolle und berechtigt ihn nicht zu diesem väterlich herablassenden Ton. Aber was soll’s? Letztlich verstehen wir uns immer gut und haben viel Spaß bei unserem Bemühen, diese chaotische Welt zu ordnen.

„Das Verhängnis ist unsere offensichtliche Anpassung an den Computer. Damit meine ich nicht die Tatsache, dass unser modernes Leben ohne solche Maschinen nicht mehr funktionieren würde, sondern unsere Veränderung hin zu binär denkenden Wesen. Wir scheinen in vielen Bereichen auch nur noch Plus oder Minus, Schwarz oder weiß zu kennen.“
„Nun,“ gab ich zu bedenken, „ein kräftiges Ja oder ein entschiedenes Nein, sind doch allemal besser, als ein wachsweiches Vielleicht und ein halbgares ’schaun wir mal‘, oder?“
„Natürlich, klare Ansagen sind heute nötiger als je zuvor!“ stimmte Piet mir zu. „Ich meine das auch mehr in Hinsicht darauf, wie wir die Welt und unsere Mitmenschen sehen. Viele sehen heutzutage doch nicht mehr den ganzen Menschen, mit all seinen Möglichkeiten und Grenzen, sondern teilen alles und alle auf in Schwarz und Weiß. Christ oder Atheist, Kapitalist oder Sozialist, Links oder Rechts, Gutmensch oder Unmensch, die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Wieso sehen wir keine Grautöne oder gar Farben mehr? Wir beurteilen und klassifizieren Menschen und das, was sie sagen und tun, nur noch wie ein Computerprogramm. Wenn – dann, wenn er so und so redet, dann ist er dies oder das. Wenn er in einem Punkt anderer Meinung ist als ich, dann kann er nicht mein Freund sein, schlimmsten Falls ist er dann in meinen Augen kein Mensch. Verstehst du, was ich meine?“

Einen Moment lang schwiegen wir, um ein wenig vom guten trockenen Roten nachzuschenken. Adelgundes mahnender Blick auf die Weinflasche entging uns dabei nicht und war für Piet der Anlass, mal wieder auf Kosten seiner lieben Frau zu witzeln. „Siehst du,“ kicherte er, „genau das meine ich. Ein Ehemann, der am Vormittag mit einem Freund in der Küche Wein trinkt, kann nach der binären Logik einer Ehefrau kein guter Ehemann sein und braucht deshalb Zurechtweisung.“

„Mein ganzes Eheleben scheint daraus zu bestehen, dich Kindskopf zurechtzuweisen.“ lachte sein geliebtes Eheweib, „aber wenn du mir kein guter Ehemann wärest, hätte ich diese Beschäftigung längst aufgegeben.“

Piet hob seinen Zeigefinger. „Hört, hört, sie denkt nicht binär, sondern weiß, dass ein guter Ehemann nicht nur anhand einer kleinen Marotte zu beurteilen ist!“

„Ich verstehe jetzt, was du meinst, Piet!“ knüpfte ich nun an seine Erklärung an. „Jemand hat schwarze Haare, dunkle Haut also ist er, binär gedacht, Flüchtling. Da er Flüchtling ist, muss er auch Grapscher oder Vergewaltiger sein, kann also nicht mein Freund sein und fällt auch nicht unter die Gruppe, der Menschenrechte zustehen, denn Mensch kann ein Vergewaltiger ja wohl kaum sein.“

Piet nickte betrübt. „Genau so hat sich offenbar unser Denken entwickelt. Wenn dies, dann folgerichtig auch das. Das ist fatal!“
Da konnte ich ihm nur Recht geben. „Weißt du Piet, ich habe mal gelesen, dass wir Menschen nur in sogenannten Klassen denken und sprechen können und das ist auch gut so. Wenn ich zu dir sage, dass ich mir einen neuen Tisch gekauft habe, dann weißt du sofort, worum es geht und das, obwohl es unzählige Arten von Tischen gibt. Vom viereckigen Klotz bis hin zum S-förmigen geschwungenen Acrylgebilde gibt es unzählige mögliche Tische. Wenn wir bei allem, was wir einander mitteilen wollen, immer erste jede Einzelheit genau beschreiben wollten, würde ein kurzes Gespräch über meinen neuen Tisch und die anderen drei Tische die zur Wahl standen, wohl eine Lebensaufgabe. So ein Klassifizieren ist also absolut notwendig für unsere alltägliche Verständigung. Fatal wird es dann, wenn wir auch Menschen auf diese Art beurteilen und klassifizieren. Die einzigen Klassen, die ich gelten lasse, sind Mensch, Kind, Mann oder Frau – jede weitere Beschreibung bedarf einer differenzierten Betrachtung.“

Piet nickte heftig: „Genau! Sollte uns nicht jeder Mitmensch wert sein, ihn in seiner Einzigartigkeit zu würdigen und nicht nach dem Schwarz/Weiß Prinzip zu beurteilen? Jeder Informatiker wird wohl über meinen Gebrauch des Wortes binär lächeln, aber ich denke, du verstehst jetzt, was ich damit meine.“
Einen kleinen Einwand hatte ich dann aber doch noch. „Ich verstehe dich gut und gerade heute, wo die Zuwanderung so vieler Menschen aus Armuts- und Kriegsregionen offenbar die Nation spaltet, ist es nötiger denn je, genau hinzuschauen. Aber was ist denn zum Beispiel mit denen, die wir so schnell als Nazis klassifizieren, weil sie rechtspopulistisches Gedankengut in die Welt posaunen? Müsste man nicht auch diese Menschen sehr viel differenzierter betrachten?“

Auf Piets Gesicht zeigte sich mal wieder sein bekanntes, schlitzohriges Grinsen. „Das tun wir doch! Wenn jemand Nazi-Sprüche von sich gibt, ist er doch nicht zwangsläufig ein Nazi. Es kann ja immerhin sein, dass er einfach nur blöd ist.“

Zuviel Wein im Spiel? Mag sein! Aber Recht hat er, mein Freund Piet!

 

Foto: Markus Vogelbacher  / pixelio.de